Bei Rechtsextremismus spielt Hass auf Demokratie große Rolle
Berlin – Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus, der Wunsch nach einer Diktatur und Verharmlosung der nationalsozialistischen Verbrechen – rechtsextreme Haltungen und Rechtsextremismus finden großen Zuspruch. Warum erstarken Rechtsextremismus und Rechtsradikalismus in Deutschland und anderen Ländern? Das ist nicht nur ein politisches, sondern auch ein psychologisches Thema. Von frühen Ängsten, Abwehrmechanismen und autoritären Strukturen berichtet Christine Bauriedl-Schmidt im Interview. Sie ist stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT).
Frage: Wie funktioniert Rechtsextremismus psychologisch?
Christine Bauriedl-Schmidt: Hinter antidemokratischen Tendenzen stehen psychologisch gesehen unbewusste Abwehrmechanismen. Alles, was als irgendwie anders erlebt wird, erzeugt ein unangenehmes Gefühl, das deshalb manchmal als nicht zu sich gehörig abgespalten wird. Wenn das ein Mensch unbewusst macht, betrifft das alle diejenigen, die anders denken, leben, aussehen oder aus anderen Kulturen kommen als man selber, sie gelten dann als die „Bösen“. Das heißt, bestimmte Gruppierungen – seien es die sogenannten Eliten, Migrantinnen und Migranten, Jüdinnen und Juden oder queere Personen – werden entwertet.
Auf diese können dann die Eigenschaften projiziert werden, die im eigenen Selbst als fremd und unangemessen erlebt werden. Der eigene Selbstwert oder die Position der eigenen Gruppe, zu der man sich zugehörig fühlt, kann dadurch gestärkt werden. Diese einfache Einteilung in „gut“ und „böse“ nennen wir in der Psychoanalyse Spaltung, ein Abwehrmechanismus, der die Psyche entlastet – aber gleichzeitig die Möglichkeiten erheblich schwächt, die Probleme der Realität angemessen zu bewältigen.
Frage: Inwiefern entlastet die Spaltung in „gut“ und „böse“ die Psyche?
Die Welt wird immer komplizierter, durch Kriege wie etwa in der Ukraine oder in Gaza, eine drohende Klimakatastrophe, Globalisierung, Digitalisierung, Beschleunigung, durch die Auflösung der dualen Weltordnung von Westen und Ostblock oder Infragestellung der Geschlechteridentität. Diese Entwicklungen befördern existenzielle Ängste bei den Menschen. Frühe Ängste – wie etwa Verlust-, Vernichtungs- oder Verfolgungsängste –, die alle menschlichen Wesen als Säuglinge und Kinder in ihrer Entwicklung durchleben, können reaktualisiert werden.
Die Gefahr ist groß, dann auch auf frühe Formen der Emotionsbewältigung zurückzugreifen, beispielsweise auf eine Abwehr wie etwa Spaltung und Projektion. Dadurch wird die komplexe Welt, das komplexe Leben auf eine einfache Einteilung in „gut“ und „böse“, „wir“ und „die“ reduziert. Diese Neuordnung gibt den Menschen Orientierung. Wir alle haben das Potenzial in uns, in ein solches Muster zu verfallen, wenn wir sehr belastet sind.
Aber nicht alle Menschen wenden sich rechtsextremen Parteien, Rechtsextremismus oder extremistischem Gedankengut zu
Sicherlich sind eine Vielzahl an Faktoren daran beteiligt, ob ein Mensch sich extremisiert oder sich als dagegen resilient erweist. Lebensgeschichtliche Erfahrungen können – aber müssen nicht – dazu beitragen, beispielsweise wenn jemand autoritäre Strukturen, Gewalt, Ausgeliefertsein erlebt und nicht die Erfahrung eines empathischen Anderen macht. Dann fällt es womöglich schwerer, andere Meinungen zuzulassen.
Abweichendes Verhalten oder auch Aussehen wird dann unter Umständen mit Gewalt oder Missachtung bestraft. Bei der rechtsextremistischen Einstellung spielt der Hass auf die demokratischen Parteien und auf den demokratischen Staat eine große Rolle. Dabei fungieren die demokratischen Parteien beziehungsweise der Staat als Stellvertreter der Täter, durch die die Menschen mit rechtsextremen Einstellungen traumatisiert wurden.
Frage: Welche Rolle spielt dabei die Zugehörigkeit zu einer Gruppe?
Zu den autoritären Strukturen gehört die Unterwürfigkeit. Es wird nur noch gedacht, was die Gruppe vorgibt, alles andere wird verdrängt. Es entsteht die Phantasie, dass alle in der Gruppe gleich sind, Konflikte und Unterschiede werden verleugnet und nach außen projiziert. Um diese Phantasie der geeinten Gruppe aufrechtzuerhalten, braucht es Feindbilder, die bekämpft werden müssen. In einer solcherart zusammengeschweißten Gemeinschaft können Angst und Unsicherheit reguliert, möglicherweise ein Sinn gefunden werden.
Frage: Untersuchungen zum Rechtsextremismus wie die Leipziger Autoritarismus Studie deuten darauf hin, dass rechtsextremistische Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Das zeigen ja auch die hohen Zustimmungswerte zu rechtsextremen Parteien in Europa. Sind letztlich alle Menschen gefährdet, in Ressentiments zu verfallen?
Wenn man davon ausgeht, dass es immer nur die anderen sind, ist die Gefahr groß, dass man selber die gleichen Mechanismen anwendet. Davon zeugt, wenn auf Demonstrationen gegen Rechtsextremismus zum Beispiel die Parole „Wir hassen die AfD“ skandiert wird. Da haben sich ebenfalls viele von der Masse mitreißen lassen, doch solche Hass-Parolen treiben die Spaltung nur voran. Wir müssen aufpassen, denn wir alle tragen diesen Mechanismus in uns, zwischen „fremd“ und „zugehörig“ zu unterteilen.
In uns allen schlummern Vorurteile, die in bestimmten Situationen aktiviert werden können. Wichtig ist es, solche Gedanken und Gefühle zuzulassen und zu reflektieren. Wir müssen versuchen auszuhalten, wie unbehaglich sich die krisenhafte Welt anfühlt, und dabei freundlich mit uns selbst umgehen – damit wir die Ressentiments nicht ausagieren.
Was kann die Psychoanalyse angesichts der politischen Entwicklungen und mit Blick auf Rechtsextremismus beitragen?
In einer global vernetzten, immer komplexeren Welt kann die Psychoanalyse dabei helfen, den Blick auf die unbewussten Prozesse zu richten, die in Krisensituation wirksam sind. Von Beginn an hatte die Psychoanalyse einen gesellschaftlich-aufklärerischen, kritischen Anspruch. Sie kann zum Verständnis und zur Verarbeitung gesellschaftlicher Konflikte beitragen. Ein Ansatz zum verstehenden Verarbeiten aktueller sozialer Krisen ist das Format der analytischen Großgruppe.
Ein Beispiel: Die vom Ehepaar Moses initiierten „Nazareth-Konferenzen“ sind ein berühmtes Gruppenformat zur Lösung von Konflikten, die sich zwischen nationalen Gruppen entwickelt haben. Im Schutz dieses Settings trafen sich 1994 erstmals nicht-jüdische und jüdische Deutsche und Israelis, um ihre wechselseitigen, in der Vergangenheit verankerten und oft unbewussten Ressentiments ans Licht zu holen und gemeinsam zu betrachten. Überhaupt gilt: Sich selbst gut kennenzulernen, zum Beispiel in einer Psychoanalyse, ist die beste Möglichkeit, eigenen Abwehrmechanismen auf die Spur zu kommen und zu erkennen, dass das, was ich im Außen verorte, ein Teil von mir selbst ist.
Quelle und Foto: DGPT